Menschliches, Allzumenschliches I (Band 2)
Vorausgesetzt, dass überhaupt g e g l a u b t wird, so ist der Alltags-Christ eine erbärmliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei zählen kann, und der übrigens, gerade wegen seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit, es nicht verdiente, so hart bestraft zu werden, als das Christenthum ihn verheisst. (S. 119)
[...] [A]ndere sind in höchstem Grade anziehend, weil bestimmte Wahnvorstellungen über ihr ganzes Wesen Lichtströme ausgiessen: wie es zum Beispiel mit dem berühmten Stifter des Christenthums der Fall ist, der sich für den eingeborenen Sohn Gottes hielt und desshalb sich sündlos fühlte; so dass er durch eine Bildung - die man nicht zu hart beurtheilen möge, weil das ganze Alterthum vor Göttersöhnen wimmelte - das selbe Ziel erreichte, das Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit [...]. (S. 140)
Menschliches, Allzumenschliches II (Band 2)
Auch die Seele muss ihre bestimmten Kloaken haben, wohin sie ihren Unrath abfliessen lässt: dazu dienen Personen, Verhältnisse, Stände oder das Vaterland oder die Welt oder endlich - für die ganz Hoffährtigen (ich meine unsere lieben modernen "Pessimisten") - der liebe Gott. (S. 574)
Morgenröthe (Band 3)
Durch das ganze Mittelalter galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums: dass man Visionen - das heisst einer tiefen geistigen Störung! - fähig sei. [...] Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte [...]. (S. 64)
Götzen-Dämmerung (Band 6)
Wie? ist der Mensch ein Fehlgriff Gottes? Oder Gott nur ein Fehlgriff des Menschen? - (S. 60)
Heute, wo wir in die umgekehrte Bewegung eingetreten sind, wo wir Immoralisten zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und den Strafbegriff aus der Welt wieder herauszunehmen und Psychologie, Geschichte, Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen von ihnen zu reinigen suchen, giebt es in unseren Augen keine radikalere Gegnerschaft als die der Theologen, welche fortfahren, mit dem Begriff der "sittlichen Weltordnung" die Unschuld des Werdens durch "Strafe" und "Schuld" zu durchseuchen. Das Christenthum ist eine Metaphysik des Henkers... (S. 69)
Das verstand die Kirche: sie verdarb den Menschen, sie schwächte ihn, - aber sie nahm in Anspruch, ihn "verbessert" zu haben... (S. 99)
Das Christenthum [...] war bisher das grösste Unglück der Menschheit. (S. 149)
Der Antichrist (Band 6)
So lang der Priester noch als eine höhere Art Mensch gilt, dieser Verneiner, Verleumder, Vergifter des Lebens von Beruf, giebt es keine Antwort auf die Frage: was ist Wahrheit? Man hat bereits die Wahrheit auf den Kopf gestellt, wenn der bewusste Advokat des Nichts und der Verneinung als Vertreter der "Wahrheit" gilt... (S. 175)
Das Schicksal des Christenthums liegt in der Nothwendigkeit, dass sein Glaube selbst so krank, so niedrig und vulgär werden musste, als die Bedürfnisse krank, niedrig und vulgär waren, die mit ihm befriedigt werden sollten. (S. 209)
Paulus wollte den Zweck, folglich wollte er auch die Mittel... Was er selbst nicht glaubte, die Idioten, unter die er seine Lehre warf, glaubten es. (S. 216)
Der Mensch soll nicht hinaus, er soll in sich hinein sehn; er soll nicht klug und vorsichtig, als Lernender, in die Dinge sehn, er soll überhaupt gar nicht sehn: er soll leiden... Und er soll so leiden, dass er jeder Zeit den Priester nöthig hat. - Weg mit den Ärzten! Man hat einen Heiland nöthig. (S. 229)
Es steht Niemandem frei, Christ zu werden: man wird nicht zum Christenthum "bekehrt", - man muss krank genug dazu sein...(S. 231)
Hiermit bin ich am Schluss und spreche mein Urtheil. Ich verurtheile das Christenthum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Corruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Corruption gehabt. Die christliche Kirche liess Nichts mit ihrer Verderbniss unberührt, sie hat aus jedem Werth einen Unwerth, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. [...] Irgend einen Nothstand abschaffen gieng wider ihre tiefste Nützlichkeit, - sie lebte von Nothständen, sie schuf Nothstände, um sich zu verewigen... [...] Die "Gleichheit der Seelen vor Gott", diese Falschheit, dieser Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Princip der ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist - ist christlicher Dynamit... "Humanitäre" Segnung des Christenthums! Aus der humanitas einen Selbst-Widerspruch, eine Kunst der Selbstschändung, einen Willen zur Lüge um jeden Preis, einen Widerwillen, eine Verachtung aller guten und rechtschaffenden Instinkte herauszuzüchten! - Das wären mir Segnungen des Christenthums! - Der Parasitismus als einzige Praxis der Kirche; mit ihrem Bleichsuchts-, ihrem "Heiligkeits"-Ideale jedes Blut, jede Liebe, jede Hoffnung zum Leben austrinkend; das Jenseits als Wille zur Verneinung jeder Realität; das Kreuz als Erkennungszeichen für die unterirdischste Verschwörung, die es je gegeben hat, - gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgerathenheit, Tapferkeit, Geist, Güte der Seele, gegen das Leben selbst... Diese ewige Anklage des Christenthums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände giebt [...] Ich heisse das Christenthum den Einen grossen Fluch, die Eine grosse innerlichste Verdorbenheit, den Einen grossen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist, - ich heisse es den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit... (S. 252f.)
Zitiert nach: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Neuausgabe 1999, Deutscher Taschenbuchverlag, München 1967-77 und 1988 (2., durchgesehene Auflage) [mp]
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